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Reinhard Mey Farben – Albumkritik und HintergrĂŒnde

Reinhard Mey Farben: Albumkritik und SongportrÀts

Letztes Update: 07. Oktober 2025

Der Artikel stellt Reinhard Meys Album 'Farben' vor, analysiert musikalische Arrangements, Texte und Stimme und bietet eine fundierte Kritik. Sie erfahren EntstehungshintergrĂŒnde, feine Beobachtungen, StĂ€rken und SchwĂ€chen sowie eine abschließende Empfehlung.

Reinhard Mey Farben – ein Album zwischen Stadt, Stille und Streit

Ein Album als Zeitlupe der Wendejahre

Mit dem Album Reinhard Mey Farben betritt ein Liedermacher die BĂŒhne, der im April 1990 mehr tut, als nur neue Lieder zu singen. Er hĂ€lt die Zeit fest. Er sortiert Stimmen, Stimmungen und Zweifel. Die Mauer ist gefallen. Der Kopf rauscht, die Straßen rauschen mit. Mey setzt sich hin, streicht die Saiten, und lĂ€sst die Bilder ziehen. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Szenen. Es sind leise Filme in Ton, mit klaren Konturen, bedacht und doch beweglich.

Auf Reinhard Mey Farben verschrĂ€nkt er Stadt und Dorf, Politik und Alltag, Ironie und Trost. Es sind Lieder, die den Moment umarmen und zugleich auf Abstand gehen. Das Album meidet Schnörkel. Es vertraut auf Stimme, Gitarre und einige Farben aus dem Studio. So entsteht eine große NĂ€he. So entsteht eine Dauer, die nicht vergeht. Man hört es, und die Welt darin wirkt noch nah.

Klangbild und Produktion: Klares Licht, weiche Schatten

Die Produktion ist sorgfĂ€ltig, aber nie prunkvoll. Die Gitarre steht vorn. Die Stimme trĂ€gt. Kleine Arrangements geben Raum, statt ihn zu nehmen. Ein Bass atmet. Eine Geige zieht einen dĂŒnnen Faden. Manchmal schiebt ein Piano eine Farbe dazu. Alles dient dem Text. Alles dient dem Bild, das er entwirft. Das Ohr ermĂŒdet nicht. Es wird gefĂŒhrt, nicht gezerrt.

Die Dynamik von Reinhard Mey Farben ist unaufgeregt. Doch sie ist nicht flach. Mey setzt auf Nuancen, auf Pausen, auf das Schwingen eines Tons. So gewinnen die StĂŒcke an Tiefe. Details werden stark, weil kein LĂ€rm sie zudeckt. Man spĂŒrt Handwerk. Man spĂŒrt Erfahrung. Vor allem spĂŒrt man die ruhige AutoritĂ€t eines ErzĂ€hlers, der weiß, wann er schweigen muss.

Berlin als BĂŒhne, Zeit als Mitspieler

Berlin brummt in diesen Liedern. Als Stadt, als Gedanke, als Echo. Es geht um Orte und um das, was Orte im Kopf tun. Gerade auf Reinhard Mey Farben ist Berlin ein Charakter. Es spricht nicht, aber es hört zu. Es hĂ€lt die Geschichten zusammen. Und die Zeit spielt mit. Sie bringt Freude, Unruhe, Hoffnung, MĂŒdigkeit. Diese Mischung macht die Platte lebendig. Sie klingt wie ein Spaziergang an einem Morgen, der mehr Fragen stellt, als er beantwortet.

Warum „Reinhard Mey Farben“ heute noch wirkt

Reinhard Mey Farben bleibt zeitlos, weil es Menschen zeigt, nicht Parolen. Es zeigt Zweifel, die man kennt. Es zeigt Heiterkeit, die nicht hohl ist. Es zeigt einen Blick, der freundlich bleibt, auch wenn er streng sieht. Der Ton ist mild, doch klar. Das macht die Lieder widerstandsfÀhig. Sie tragen durch Jahre, durch Moden, durch neue Krisen. Sie rufen nur selten laut. Aber sie bleiben im Raum, auch wenn der letzte Akkord lÀngst verklungen ist.

Track fĂŒr Track: Geschichten in zwölf Szenen

Im Kern erzĂ€hlt Reinhard Mey Farben zwölf kleine Filme. Jede Szene hat einen Ort, eine Farbe und eine Figur. Mal ist es ein Ich, das beobachtet. Mal ist es ein Wir, das fragt. Mal ist es ein Heiteres, das kippt und plötzlich ernst wird. Die Reihenfolge wirkt wie ein Weg. Man beginnt in der Stadt, biegt ab ins Private, kehrt zurĂŒck ins Offene und findet am Ende einen stillen, klaren Schluss.

1) Mein Berlin

Der Auftakt ist eine weite Karte. „Mein Berlin“ fĂ€chert die Stadt auf, als wĂŒrde man sie zu Fuß vermessen. Der Text schaut in Hinterhöfe und auf PlĂ€tze. Er tastet nach Rissen und neuen Wegen. Die Musik schreitet langsam, aber mit sicherem Tritt. Unter dem Lied schwingt der Umbruch. Das passt zur Veröffentlichung im April 1990. Man spĂŒrt den Wind. Man spĂŒrt die Lust, endlich anders zu atmen. Das passt zum Bogen, den Reinhard Mey Farben spannen will.

2) Kleines MĂ€dchen

Ein zartes PortrĂ€t folgt. „Kleines MĂ€dchen“ ist wie ein Foto in der Brieftasche. Warm, aufmerksam, besorgt. Das Lied steht still und öffnet einen kleinen, privaten Raum. Die Gitarre ist weich. Die Melodie kreist sanft und trĂ€gt den Blick, den man nur fĂŒr Nahes hat. Nichts drĂ€ngt. Nichts poseiert. So ergibt sich ein feines Gleichgewicht. Man hört den Respekt vor dem Leben, das wĂ€chst, ohne es eilig zu haben.

3) Wahlsonntag

Nun wird’s politisch. Doch Mey diskutiert nicht. Er beobachtet die Rituale. „Wahlsonntag“ legt den Finger auf Gesten und SĂ€tze, die man kennt. Das Tempo ist kurz, die Pointe sitzt. Humor trocknet hier das Pathos. Der Refrain fĂŒhlt sich wie ein Schulterzucken an, das aber klug ist. Der Song erinnert: Politik ist Alltag, und Alltag ist Politik. Man kann sich ihm nicht entziehen. Aber man kann die Augen offen halten.

4) Allein

„Allein“ ist eine stille Kammer. Es geht um das, was bleibt, wenn der LĂ€rm abklingt. Mey zeichnet keinen großen Schmerz. Er zeichnet die kleine MĂŒdigkeit, die jeder kennt. Ein Zimmer, ein Stuhl, ein Blick ins Grau. Die Gitarrenfigur ist schlicht und schön. Die Worte sind knapp. Das Lied tröstet, weil es nichts beschönigt. Es sagt: Du bist damit nicht allein. In dieser ZurĂŒcknahme liegt seine Kraft.

5) In Lucianos Restaurant

Hier schiebt sich ein CinĂ©ma im Miniformat ins Album. Ein Tisch, ein Kellner, ein GesprĂ€ch. „In Lucianos Restaurant“ lebt von Details. Man sieht fast die GlĂ€ser. Man hört Besteck, man riecht Tomaten und Basilikum. Die Szene ist leicht, aber nie banal. Sie zeigt Menschen, die sich nahe sind, auch wenn sie schweigen. Ein guter Kellner weiß, wann er weitergeht. Mey weiß es auch. Er lĂ€sst das Bild stehen und geht weiter.

6) Mein Dorf am Ende der Welt

Nach der Stadt geht es aufs Land. „Mein Dorf am Ende der Welt“ ist eine RĂŒckkehr, aber keine Flucht. Es ist der Blick des Reisenden, der weiß, was Ferne kann und NĂ€he will. Man hört das Heu, die Stille, den Wind, der durch offene Fenster geht. Das Lied malt, ohne dick aufzutragen. Es ist ein Raum fĂŒr Atem. Es erinnert daran, dass Heimat eine Übung ist, nicht ein Besitz.

7) Alle Soldaten woll’n nach Haus

Ein Antikriegslied, ruhig und bestimmt. Die Botschaft ist klar, doch nie belehrend. Die Melodie spannt ein weites Feld, ĂŒber dem die Stimme gerade bleibt. Auf Reinhard Mey Farben setzt er hier auf die Kraft des Wunsches statt auf das Donnern der Anklage. Das macht den Text stark. Er zeigt Menschen, nicht Helden oder Feinde. Man hört die MĂŒdigkeit von Marschschritten. Und den einfachen Wunsch, wieder Mensch zu sein.

8) Zwischen allen StĂŒhlen

Ein Lied ĂŒber das Dazwischen. Es geht um Rollen, die nie passen. Um RĂ€ume, in denen man nicht recht sitzt. Mey nimmt die SchĂ€rfe aus dem Thema. Er nimmt es an wie Wetter. Die Musik tippt, statt zu drĂŒcken. Sie trĂ€gt den Witz im Titel, ohne den Ernst zu vergessen. Das Lied ist kurz, doch es bleibt. Man erkennt darin die Erfahrung eines KĂŒnstlers, der beides kennt: BĂŒhne und Rand.

9) Ich hab’ meine Rostlaube tiefergelegt

Hier lacht der Abend. Das StĂŒck feiert den albernen, schönen Stolz auf eine alte Kiste. Es ist eine Hymne auf den Charme des Unperfekten. Der Witz sitzt in den Bildern, nicht in Gags. Die Gitarre schwingt wie eine alte Feder. Das Tempo wippt. Man sieht das Auto vor sich und seine Beulen. Man lĂ€chelt und merkt: Es geht um mehr. Es geht um das Recht, Dinge zu lieben, die nicht glĂ€nzen.

10) Die Kinderhosenballade

Ein Heimspiel fĂŒr Mey. Er kann Familienlieder, die nicht kleben. Hier tut er es wieder. Die Zeilen sind verspielt und zĂ€rtlich. Sie tragen Alltag, WĂ€scheleine, GelĂ€chter. Man hört, wie aus Krach Musik wird. Man ahnt, wie sehr die Zeit zieht, wenn Hosen kĂŒrzer werden. Das StĂŒck ist kurz und fein. Es verweilt nicht zu lang, und doch hallt es nach. Ein kleines Licht in der Mitte der Platte.

11) Golf November

Der Titel weckt Funkalphabet und Nebel. Das StĂŒck ist eine Herbstszene. Es spricht von Funk, von Funkstille und von Zeichen, die man falsch verstehen kann. Die Musik ist ruhig, fast schwebend. Die Bilder sind offen genug, um viele Deutungen zu tragen. Es ist ein Lied ĂŒber Kommunikation, die rutscht. Und ĂŒber die Sehnsucht nach einem klaren Signal. Ein spĂ€tes, schönes Leuchten im letzten Drittel des Albums.

12) Wir

Der Schluss zieht Bilanz. „Wir“ sammelt Wege ein und stellt eine leise Frage. Was hĂ€lt, wenn vieles sich schiebt? Mey antwortet nicht groß. Er beschreibt NĂ€he, die trĂ€gt, auch wenn sie nicht laut wird. Die Gitarre nickt. Der Gesang ist warm, aber fest. So endet die Platte still. Man legt sie weg und hat das GefĂŒhl, mitgenommen worden zu sein. Nicht gezogen, sondern begleitet.

Humor, der nie bitter wird

Humor ist in diesen Liedern mehr als WĂŒrze. Er ist eine Haltung. Er schĂŒtzt die Figuren, statt sie vorzufĂŒhren. Selbst im Spott bleibt WĂ€rme. Das ist selten. Und es ist der Grund, warum man sich in diese Welt gern begibt. Auch die spitzen Nummern bleiben freundlich. So verhindert Reinhard Mey Farben die schnelle Abnutzung. Witze altern, Milde bleibt. Darum lĂ€cheln Sie beim dritten Hören noch immer an derselben Stelle.

Politik trifft Privatheit

Die politische Lage der Zeit ist allgegenwĂ€rtig. Doch sie wird nicht zum Plakat. Mey zeigt, wie Politik in KĂŒchen fĂ€llt und in Restaurants redet. Er zeigt, wie Wahlen den Sonntag Ă€ndern und wie Nachrichten die Nacht stören. Er bleibt in Gesichtern. So ist Reinhard Mey Farben glaubwĂŒrdig. Es macht den Aufbruch nicht zum Katalog. Es macht ihn zum GesprĂ€ch. In solchen GesprĂ€chen hĂ€lt man es gern aus.

Rezeption und VermÀchtnis

Als das Album am 1. April 1990 erscheint, findet es offene Ohren. Es passt zur Stunde, aber es eilt ihr nicht hinterher. Kritiker loben den Ton und die handwerkliche Ruhe. Fans finden Lieder, die bleiben. Heute wirkt es wie ein fester Punkt im Werk. Man kehrt zu ihm zurĂŒck, wenn das Außen zu laut wird. Hier ist Weite ohne LĂ€rm. Deshalb bleibt auch Reinhard Mey Farben ein guter Einstieg fĂŒr neue Hörer.

Im Vergleich zum Werk davor und danach

Im Vergleich zu frĂŒhen, rein folkigen Alben ist die Klangfarbe runder. SpĂ€tere Produktionen klingen oft grĂ¶ĂŸer. Dieses Album steht dazwischen. Es hĂ€lt die Balance zwischen IntimitĂ€t und Blick nach außen. Es zeigt, wie man öffnet, ohne zu verlieren. Wer Meys Werk kennt, hört Linien, die sich hier bĂŒndeln. Wer neu einsteigt, findet einen klaren Kompass. So wird Reinhard Mey Farben zum Bindeglied im Katalog.

FĂŒr wen lohnt sich dieses Album heute?

FĂŒr alle, die Texte lieben, die atmen. FĂŒr alle, die Politik nicht nur als Schlagzeile sehen. FĂŒr Menschen, die ein ruhiges Album wollen, das dennoch trĂ€gt. FĂŒr Hörer, die Gitarrenarbeit schĂ€tzen, aber keine Virtuosen-Show brauchen. FĂŒr Neugierige, die Berlin als Stimmung hören wollen. FĂŒr Sammler, die Lieder suchen, die nicht altern. FĂŒr sie alle öffnet Reinhard Mey Farben eine TĂŒr, die sanft schwingt und nicht klemmt.

Fazit

Dieses Album ist groß in kleinen Gesten. Es zeigt Figuren, denen Sie zuhören möchten. Es zeigt Orte, die Sie kennen, auch wenn Sie nie dort waren. Es zeigt eine Zeit, die fragt und hofft. Das macht es stark. Die Produktion ist maßvoll. Die Melodien sind schlicht, aber wirkungsvoll. Die Stimme fĂŒhrt Sie durch zwölf Szenen, die zusammen ein Panorama ergeben. Sie legen die CD ab und haben mehr gesehen als vorher.

Man kann sagen: Reinhard Mey Farben hat die leise Kunst, lange zu bleiben. Es ist eine Platte ohne Eile und ohne Staub. Sie ist freundlich, aber nie flach. Sie kennt den Witz, aber auch den Grund. In ihr lernt man, hinzusehen und gut zu hören. Das genĂŒgt. Mehr muss ein Album nicht wollen. Und genau deshalb will man es immer wieder hören.

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